Marienthaler Straße 57, Kurt Goldschmidt

Liebe Nachbarn der Marienthaler Straße 57-61, es geht um einen ehemaligen Nachbarn von Ihnen: Kurt Goldschmidt. Er wohnte von 1933 bis Juli 1943 mit seinen Eltern, Hermann (geb. 1880) und Helene (geb. 1892), sowie seiner Schwester Edith (geb. 1919) in der Marienthaler Straße 57, heute auf der Höhe zwischen Spielplatz und der Nummer 61. Die Eltern von Hermann, Louis und Hilda, wohnten zeitweilig von 1938 bis zu ihrer Flucht 1939 nach England, später in die USA, ebenfalls bei den Goldschmidts im II. Stock. Kurt wurde am 30. März 1923 in Hamburg geboren und lebte vorher mit seinen Eltern bis 1929 in der Talstraße 21.1930 folgte der Umzug in die Hochallee 29, 1933 in die Marienthaler Straße 57. Sein Vater war jüdischer, seine Mutter evangelischer Konfession.

Heute lebt Kurt Goldschmidt in New York und ist vor einigen Monaten 100 Jahre geworden. Da sein Vater Jude war, wurden er und seine Familie in der NS-Zeit verfolgt: Er wurde aus der Schule Averhoffstraße vertrieben und konnte nicht studieren. Nach dem 9. November 1938 wurde er aus seinem Lehrbetrieb geschmissen, wurde jüdischer Zwangsarbeiter in einer Rüstungsfirma, musste einen „Judenstern“ tragen und wurde nach Theresienstadt/Terezin deportiert.

Der Boykott jüdischer Geschäfte traf die Goldschmidts, die vier Wäscherei-Betriebe hatten, schwer: Nach dem Novemberpogrom 1938 gaben die Eheleute Goldschmidt nacheinander die drei Geschäfte auf, als letztes am 31. März 1939 ein Geschäft in der Fuhlsbüttler Straße.

Die Goldschmidts in der Marienthaler Straße 57

Kurt ging bis Ostern 1938 in die Bertram Schule im Harvesthuder Weg 65-67. Über sein zu Hause sagt er: „Das Leben in Hamm war angenehm, wir fuhren oft mit dem Fahrrad zum nahegelegenen Hamburger Park, und auch die Hamburg-Lübecker Autobahn, die um diese Zeit gerade gebaut wurde… Ich erinnere von dieser Zeit, dass wir oft Fußball spielten.” In der Marienthaler Straße 56, den Goldschmidts direkt gegenüber, war das Backgeschäft von Frau Solbrig. “Sie war eine sehr nette Ladeninhaberin”, erinnert er sich. Kurt erlebte die antisemitische Hetze der Nazis, der die Nachbarschaft und auch Kinder ansteckte. Im Jahr 1935 saß er mit Jungen vor einem Nachbarhaus: “Da kamen ‘2 Freunde’, die nur selten mit uns auf der Straße spielten. Sie grüßten jeden mit Handschlag. Als ich jedoch meine Hand ausstrecke, übersahen sie mich und erklärten: ‘Wieso bist du noch hier? Du gehörst doch nach Jerusalem.’…’Ihr ward lange genug in Deutschland, hau ab, du Schwein.’” Doch Kurt organisierte sich seine Freizeit weiter mit anderen Jugendlichen, z.B. in Jugendgruppen. “In den Sommerferien und auch während der Osterzeit machte ich Reisen  in die Lüneburger Heide mit dem Fahrrad. Wir fuhren südlich bis in die Gegend von Celle. “

Ende Mai 1943 wurde sein Vater,  Hermann Goldschmidt, inzwischen 63 Jahre alt, vom Arbeitsamt für Juden als Lagerarbeiter eingesetzt. Bei der Arbeit in der Zugluft an offenen Ladeluken zog er sich eine schwere Erkältung zu und wurde in das Behelfskrankenhaus der jüdischen Gemeinde in der Schäferkampsallee 29 gebracht, wo er am 2. Juni 1943 starb. Vor dem Spielplatz in der Marienthaler Straße liegt ein Stolperstein für Hermann Goldschmidt.

Was ist der Grund der Info?

Aus Anlass des 9. November 1938, den November-Pogromen gegen jüdische Menschen, wird Kurt aus New York auf einer Kundgebung am 9. November 2023 vor der Ganztagsgrundschule Sternschanze zu hören sein. Er ist einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen und hat sehr viele Bezüge in unserer Nachbarschaft. Wie er einst bei Ihnen in der Marienthaler Straße wohnte, machte er 1939/41 eine Schlosserlehre in einer jüdischen Werkschule bei uns im Viertel, in der Weidenallee 10 bc.

Erinnerungen an die November-Pogrome 1938

Er hat als einer der wenigen heute lebenden Zeitzeugen den 9./10. November 1938 erlebt.  An diesen Tagen stecken die Nazi in Hamburg die Synagogen in Brand. Fast 1.000 Juden aus Hamburg wurden damals von der Polizei willkürlich verhaftet, misshandelt und hunderte von ihnen ins KZ verschleppt. Hunderte jüdische Geschäfte wurden zerlegt. Diese November-Pogrome, die so genannte Reichskristall-Nacht, war eine der Höhepunkte der antisemitischen Hetze und den beginnenden Terror bis zur Ermordung jüdischer Menschen des NS-Regime mit den Deportationen ab Oktober 1941. 

Am Morgen des 10. November 1938 ging er zu seinem Ausbildungsunternehmen, Frankfurter & Liebermann im Kaufmannhaus, Hohen Bleichen. Liebermann war bereits einige Tage vorher aus der Hamburg Börse rausgeschmissen worden, da er Jude war. Auf dem Weg über die Schleusen- brücke/Neuen Wall (am Hamburger Rathaus) ging Kurt an dem bereits zerstörten Kaufhaus der Gebr. Robinson vorbei. “Ich traute meinen Augen nicht, als ich Fenster- scheiben zerschlagen sah. Viele Leute, manche in SA und anderen Nazi-Uniformen und auch Frauen standen vor dem Geschäft. Andere gingen hinein und kamen mit gestohlenen Kleidungsstücken wieder heraus.” Im Geschäft angekommen, wurde er gleich wieder nach Hause geschickt. “Alle jüdischen Geschäfte wurden ‘arisiert’. Das hieß, dass alle Firmen, deren Inhaber jüdisch waren, von einem ‘Arier’ übernommen wurden. … Der Inhaber, Herrn Liebermann“, so erinnert sich Kurt, „konnte das Geschäft nicht mehr betreten… Ich konnte meine Lehrzeit bei Frankfurter & Liebermann nicht mehr fortsetzen, da die ‘arisierte’ Firma keine Juden mehr einstelle.“

Kurt Goldschmidt war einige Jahre gewissermaßen ihr Nachbar, wenn ich dieses Bild bedienen darf. Das ist der Zusammenhang, warum ich in ihrem Briefkasten gelandet bin. Vielleicht sehen wir uns ja am 9. November 2023? Danke für Ihr Interesse. 

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