Gegen Diskriminierung und Ausgrenzung


Rede von Stefan Hensel, Antisemitismusbeauftragter der Stadt Hamburg:

Mit dieser Gedenkveranstaltung erinnern wir heute an die 1705 jüdischen Menschen Hamburgs; darunter Kinder, Frauen, Männer und Rentner:innen; die unter anderem von diesem Ort aus, dem Schulhof sowie dem Schulgebäude der Schule Schanzenstraße, in den Tagen ab dem 14. Juli 1942, vor allem am 15. und 19. Juli, von den Nationalsozialisten aus ihrem Leben gerissen und verschleppt wurden. Sie wurden aus den sogenannten „Judenhäusern“ geholt, auf diesem Schulhof zusammengepfercht und in das Ghetto Theresienstadt/Terezin und von dort aus in großer Zahl auch in die Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka deportiert und ermordet.

Mein besonderer Dank gilt am heutigen Tag auch Frau Marlies Poss, deren Tante Berthie Phillip am 15. Juli 1942 deportiert wurde und zu den wenigen Überlebenden dieser beiden Tage zählt; sowie Frau Marlies Schmidt, einer Enkelin von Hindelchen Karp, die ebenfalls am 15. Juli des Jahres 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde. Denn nur mit Hilfe der Schilderungen und Überlieferungen der Überlebenden und ihrer Angehörigen können wir die Zusammenhänge dieser Tage der Deportationen nachvollziehen. So ist es mir an dieser Stelle wichtig zu erwähnen, dass hinter den 1705 Namen auf den Gedenktafeln die Schicksale von 1705 Menschen mit ihren ganz eigenen Geschichten und Träumen stehen. Mein Dank gilt ebenso der Stadtteilinitiative „kein Vergessen im Weidenviertel“, die das heutige Gedenken durch ihr beständiges Engagement, ihre Recherchearbeit und die Organisation dieser Kundgebung ermöglicht haben. Und nicht zuletzt danke ich Ihnen allen für Ihr Kommen heute an einem Ferientag im Sommer – auch damals waren übrigens Schulferien; auch damals waren es – laut den Aufzeichnungen des Historikers Wilhelm Mosel – strahlende Sommertage.
Die Deportationen dieser Tage, an die wir heute erinnern, markieren den Endpunkt in einem langen Prozess der Entrechtung, der Beraubung und letztlich der Entmenschlichung jüdischer
Bürgerinnen und Bürger der Stadt Hamburg während des Nationalsozialismus. Hamburg sollte „judenfrei“ gemacht werden.

Und so müssen wir heute auch auf die schauen, die diesen Prozess mitgetragen und ermöglicht haben. Denn die Deportationen, die auf diesem Schulhof stattgefunden haben, fanden nicht im Verborgenen statt. Zeitzeugen und Zeitzeuginnen berichten von Nachbar:innen, die die Zusammenrottung der Menschen aus den sogenannten „Judenhäusern“, eines davon war beispielsweise in der Bundestraße 43, keine 300 Meter von hier entfernt, lauthals zustimmend kommentierten; von johlenden Kindern, die den Abtransport ihrer Mitschüler und Mitschülerinnen, ihrer Nachbarn und Mitbürger:innen begleiteten. Und deshalb ist ein solches Gedenken immer auch eine deutliche Mahnung an uns alle, heutigen Formen von Antisemitismus, Rassismus und Antiziganismus in aller Deutlichkeit zu widersprechen. Es ist eine Mahnung an uns alle, die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten aktiv mitzugestalten und ihrer Leugnung und Verharmlosung immer wieder aufs Neue etwas entgegenzusetzen. Wir sind nicht gleichgültig.

Denn auch heute sind wir trotz der dunklen Geschichte in unserem Land bei Weitem nicht immun gegen Ausgrenzung und Hetze. Subtile Vorbehalte oder offener Hass gegen jüdische Menschen waren und sind weiterhin ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Öffentliches Jüdisches Leben kann nach wie vor nur unter polizeilichem Schutz stattfinden; und auch dann nicht immer, wie uns der Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 schmerzlich bewusst gemacht hat. Kunstausstellungen können sich unverhohlen und ohne Konsequenzen antisemitischer Bildsprache bedienen und so antisemitische Feindbilder nähren. Zeitgleich befinden sich rechtsextreme politische Ansichten, parteilich vertreten in den Parlamenten, in weiten Teilen der Bundesrepublik in einem erschreckenden Umfragehoch. Sie bedienen sich mal offen mal subtil antisemitischer, verschwörungsideologischer Sprache und haben Antisemitismus schon längst wieder anschlussfähig, wenn nicht gar mehrheitsfähig, gemacht.

Wir stehen heute vor einer Schule, und ich spreche auch heute in meinem Amt als Antisemitismusbeauftragter der Stadt Hamburg häufig mit Schulleiterinnen und Schulleitern. Oft erkundige ich mich dabei nach jüdischen Schülerinnen und Schülern an ihren Schulen. Und wenn Sie mir dann entgegnen, dass es keine jüdischen Schüler:innen an ihrer Schule gibt, dann glaube ich das zunächst einmal nicht. Denn viel zu häufig schon habe ich die bittere Erfahrung gemacht, dass sich jüdische Schülerinnen und Schüler nicht trauen ihr Jüdischsein im schulischen Kontext zu erwähnen, sich als jüdisch erkennbar zu zeigen. Aus Angst vor Antisemitismus. Es ist aber nicht nur die Angst der Kinder selbst, sondern häufig auch die ihrer Eltern, die ihren Kindern aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen in diesem Land mit auf den Weg geben, sich nicht als Jüdin oder Jude zu erkennen zu geben.

Und dennoch, und das ist mir wichtig zu betonen, waren und sind Jüdinnen und Juden niemals nur Opfer. Ich stehe hier mit dem Wissen, dass es nach der Befreiung Hamburgs von den Nationalsozialisten nur noch eine verschwindend geringe Anzahl jüdischer Menschen in dieser Stadt gab, die entweder als Ehepartner:innen nicht-jüdischer Menschen überlebt hatten oder im Untergrund der Verfolgung entkommen konnten. Dennoch wurde in Hamburg bereits im Jahr 1945 von ca. 70 Überlebenden wieder eine neue jüdische Gemeinde gegründet. Aufgrund dieser Widerständigkeit und dieses Mutes von Jüdinnen und Juden gibt es heute noch ein vielfältiges und lebendiges jüdisches Leben in Hamburg. Und ich sehe es als eine meiner Aufgaben, dieses Leben sichtbarer zu machen. Aber ich möchte auch Sie ermutigen, in den Dialog mit uns Jüdinenn und Juden zu treten, denn es ist meine feste Überzeugung, dass der Austausch und die persönliche Begegnung ein wichtiger Schritt im Kampf gegen Diskriminierung und Ausgrenzung sind.

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