Marie Luise Borstelmann, Talstraße 73, wurde am 15. April 1943 nach Auschwitz deportiert

Bis vor knapp 80 Jahren gab es in der Talstraße 73 ein „Haus 5“ – eines von fünf kleinen Hinterhäusern. Christine und Otto Ballmer wohnten dort ab Mai 1939 mit ihren Kindern Marie Luise und Sonny Wilhelm in einer Drei-Zimmer-Wohnung im Parterre. Zuvor hatten sie in verschiedenen kleinen Wohnungen auf St. Pauli gelebt: So in der Paulstraße, heute Otzenstraße, und in der Seilerstraße. Die Kinder, die in St. Pauli zur Schule gingen, stammten aus Christines erster Ehe mit Hinrich Borstelmann. 1935 hatte Christine Otto geheiratet. Er war Steward und fuhr bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zur See, dann arbeitete er in Hamburg als Kellner und Brauereifahrer, bis er 1943 zur Wehrmacht eingezogen wurde. 

Christine, Marie Luise und Sonny Wilhelm waren Sinti*zze, die vom NS-System wie die jüdischen Menschen verfolgt wurden. Bis zu einer halben Million Sinti und Roma sind in der  Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ermordet worden. Wie die jüdischen Menschen fielen sie unter die so genannten Nürnberger Gesetze von 1935. Damit galten sie per Gesetz als „deutschen Blutes”. Sie wurden zudem als “asozial” diffamiert und waren mit dieser Ausgrenzungskampagne für eine weitere gesellschaftliche Ächtung freigegeben. Ab 1940 begannen die Deportationen in den Osten. Am 20. Mai 1940 wurden über 1.000 Sinti und Roma über den Hannoverschen Bahnhof, heute Hafencity, verschleppt. Insgesamt fanden 20 Deportationen statt, drei davon ausschließlich mit Sinti und Rom: Am 20. Mai 1940, am 11. März 1943 und am 18. April 1944.

Wer war Marie Luise Borstelmann?

Marie Luise kam am 3. Dezember 1923 in Zeven/Niedersachsen auf die Welt. Seit Ende der 1920er Jahre lebte sie mit ihrer Familie in Hamburg. Am 15. April 1943 wurde sie von der Kriminalpolizei festgenommen und ins KZ Auschwitz deportiert, wo sie am 19. Mai 1943 ankommt. Am 16. Mai 1944 ist sie dort ums Leben gekommen. Bereits seit 1939 wurde sie systematisch von der damaligen Hamburger Polizei überwacht. 

Marie Luises Vater Hinrich Borstelmann galt als Arier. Für Menschen wie ihn hatten die Nazis den Begriff „Versippte“ eingeführt. „Versippte“ wurden zwar nicht deportiert, aber mit dieser diffamierenden Bezeichnung ebenfalls ausgegrenzt und diskriminiert. Auch Christines 2. Ehemann Otto wurde 1939 auf das örtliche Polizeirevier auf St. Pauli bestellt und aufgefordert, sich von Christine scheiden zu lassen. Er kam dem nicht nach. Marie Luises Bruder Sonny konnte keine Lehre antreten.

Maria Luise wurde als Zwangsarbeiterin von 1939 bis 1943 bei den Valvo-Röhrenfabrik (heute Philips), ausgebeutet. Als sie offenbar einmal zu spät zur Arbeit erschien, wandte sich das Unternehmen gleich direkt an die Kriminalpolizei. Sie wurde vorgeladen und dort rassistisch und sexistisch beschimpft. In einer Erklärung des verantwortlichen Beamten, die er nach Kriegsende 1945 verfasste, heißt es: „Desgleichen hat sie auch wiederholt gegen die ihr vom Reichskriminalpolizeiamt erteilten Auflagen, mit deutschblütigen Personen nicht zu verkehren, verstossen. Die Borstelmann ist darauf von der Kriminalpolizei mehrfach mündlich und auch schriftlich ernstlich verwarnt worden. Sie ist auch gleichzeitig darauf hingewiesen worden, dass sie bei Fortführung ihres Verhaltens und weiteren Verstössen gegen die Auflagen mit der Anordnung der polizeilichen Vorbeugungshaft vonseiten des Reichskriminalpolizeiamtes zu rechnen habe. Auch die Mutter der Borstelmann ist auf die ernsten Folgen, die sich aus dem Verhalten ihrer Tochter ergeben könnten, hingewiesen worden.“  Da sie seiner Meinung nach ihr Verhalten nicht änderte, wurde „Vorbeugehaft“ erlassen, sie wurde festgenommen und ins KZ Auschwitz deportiert. 

Ihr Vater Hinrich bemühte sich nach Kräften, sie aus Auschwitz herauszuholen. Mehrfach fuhr er nach Berlin, um mit den zuständigen Stellen des Reichskriminalamtes eine Regelung zu finden. Als ihm mitgeteilt wurde, dass sie ins KZ Ravensbrück verlegt werden sollte, fuhr er dorthin. Seine Tochter kam dort jedoch nie an. Nachdem er nach Hamburg zurückgekommen war, erhielt er die Nachricht, dass sie in Auschwitz verstorben sei. Sie wurde 21 Jahre alt.

Auch der Bruder von Christine, Constantin, sowie dessen vier Söhne, wurden nach Auschwitz deportiert. Unmittelbar danach floh Christine aus Hamburg – was sie vor Deportation und Ermordung rettete. Zusammen mit ihrer Mutter Lisette Schwarz versteckte sie sich bis zur Befreiung Hamburgs am 3. Mai 1945 an verschiedenen Orten Norddeutschlands. Ihr Bruder kam, wie die Söhne, in Auschwitz um. Ihre beiden jüngsten Neffen, die Zwillinge Fred und Otto, wurden nur elf Jahre alt.

Was wurde aus den Hinterhäusern der Talstraße 73?

Im Juli 1943 waren das Vorderhaus Talstraße 73 und einige Hinterhäuser von den Bombardements der Alliierten getroffen worden. Die Wohnung der Familie Ballmer-Borstelmann war weitgehend erhalten geblieben, so dass Christine, die zu diesem Zeitpunkt nur noch mit Sonny dort lebte, einigen Nachbarn angeboten hatte, dort mit unterzukommen. Zeitweilig lebten dort 10 Menschen. Sie blieben auch dort, nachdem Christines geflohen war. Im März 1945 wurde auch das Haus 5 zerstört. 

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