Am 9./10. November 1938 zerstörten SS-Truppen in Hamburg hunderte jüdische Geschäfte und Einrichtungen. Die Pogrome markierten den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933 zur systematischen Verfolgung, die später in den Holocaust mündete. Am Abend des 9. November 1938 sprach Josef Göbbels von einer “Jüdischen Weltverschwörung“ und lobte die angeblich „spontanen“ judenfeindlichen Aktionen im ganzen Reich.
Antisemitismus ist kein Problem der Vergangenheit, wie der Anschlag vor der Jüdischen Gemeinde Hamburg zeigt
Wie aktuell das Thema des Antisemitismus ist, zeigte der jüngste Anschlag 5. Oktober 2020 vor der Synagoge der Jüdischen Gemeinden in der Hohen Weide. Ein Student wurde mit mit einer Spaten schwer verletzt, er trug eine Kippa. Nach Polizeiangaben hatte der Tatverdächtige einen Zettel mit einem Hakenkreuz in seiner Tasche. Sowohl die militärische Kleidung als auch das Datum der Attacke wecken Erinnerungen an den Anschlag auf die Synagoge von Halle an der Saale vor einem Jahr. Dort hatte am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur ein schwer bewaffneter Rechtsradikaler versucht, in die Synagoge einzudringen. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Hamburg, Philipp Stricharz, sagte zu der Tat, „Es mag sich um einen psychisch verwirrten Einzeltäter gehandelt haben. Aber dieser verwirrte Einzeltäter wird seinen Hass irgendwo herhaben. Wenn Millionen Menschen mit Hass berieselt werden, dann wird sich immer ein verwirrter Einzeltäter finden, der so eine Tat begeht.“
Opfer des 9. November 1938 in unserem Wohngebiet
In der Pogromnacht hatte die SS alle acht Hamburger Synagogen in Brand gesteckt. Über 800 jüdische Menschen wurden an diesem Tag verhaftet und misshandelt. In unserem Wohngebiet waren zwei Geschäfte in der Bellealliancestraße 66 und 68 betroffen. Die Drogerie von Arthur Prager wurde genauso zerstört wie die von Ivan Andrade. Er wurde von der Gestapo verhaftet, weil er Jude war und wurde im Polizeigefängnis im Stadthaus festgehalten. Einige Tage später wurde er ins KZ Sachsenhausen verlegt und dort so schwer misshandelt, dass er nicht mehr alleine gehen konnte.
Gusti Zucker verließ am 10. November 1938 ihre Arbeit im Neuen Wall und versteckte sich in ihrer Wohnung in der Schäferkampsallee 41. Auch an Sie erinnert heute ein Stolperstein.
Virtuelle Kundgebung am 9. November, 18 Uhr
Die ehemalige jüdische Ausbildungswerkstatt in der Weidenallee 10b gab es von 1934 bis 1941. Die Lehrlinge lernten dort die Berufe Tischler und Schlosser. Es gab für die jüdischen Jugendlichen nur diese Möglichkeit in Hamburg, einer Ausbildung nachzugehen, woanders wurden sie nicht beschäftigt. Die Werkschule wurde 1941 nach der Deportation des Ausbildungsleiters für die Tischler, Jacob Blanari und seiner Frau Theophilie, geschlossen. Beide wurden am 8. November 1941 nach Minsk deportiert und fanden dort den Tod. Die Räume für die Schlosser-Lehrlinge wurden ebenfalls geschlossen und für einige Monate unter der Adresse Beim Schlump 31 fortgeführt. Das Gewerbehaus wurde von Wilhelm Schriever für die Rüstungsproduktion benötigt. Dazu beschäftigte er über 50 sowjetische Zwangsarbeiter, die unter elenden Bedingungen dort hausen mussten.
Jüdische Zeitzeugen sprechen auf der Kundgebung
Zur virtuellen Kundgebung am 9. November 2020 (18 Uhr) werden zwei Überlebende sprechen, die damals Tischler- und Schlosser-Lehrlinge gewesen waren: Kenneth Hale (98) und Kurt Goldschmidt (97). Beide leben seit Jahrzehnten in den USA. Kenneth und sein Bruder wurden am 10. November 1938 von den Nazis verhaftet, konnten aber entkommen. Während Kenneth 1939 über England in die USA (1946) floh, wurde Kurt bis 1945 als Zwangsarbeiter gefangen gehalten. Im Februar 1945 wurde er nach Theresien-stadt deportiert. Im Mai 1945 befreite die Rote Armee die jüdischen Menschen in Theresienstadt.
Kenneth Hale und Kurt Goldschmidt werden am 9. November “live” aus New York sprechen bzw. werden ihre Beiträge eingespielt. Ein Enkel von Jacob Blanari, dem Ausbildungsleiter der Tischler bis 1941 wird ebenfalls live zugeschaltet werden.
Kerzen vor den Stolpersteinen entzünden
Wir laden Sie zu der Kundgebung am 9. November vor der Weidenallee 10b ein. Wir laden Sie ein, vor den Häusern, wo Stolpersteine an die NS-Opfer in unserem Viertel erinnern, Kerzen zu entzünden. Zu einem Stadtteilrundgang treffen wir uns am 9. November um 16 Uhr vor der Bellealliancestraße 66, um dort auf die Zerstörung jüdischer Geschäfte aufmerksam zu machen. Weitere Orte unseres Stadtteilrundgangs sind Vereinsstraße 7 und 59, Kleiner Schäferkamp 32, Schäferstraße 4 und Agathenstraße 3. Es werden Angehörige von NS-Opfer, Mitarbeiter*innen von Geschichtswerkstätten und Gedenkstätten und eine Stolperstein-Patin sprechen.