Rede Karin Heddinga am 9. November 2023

Auf der Kundgebung zur Erinnerung der Novemberpogrome von 1938 hatte Karin Heddinga gesprochen. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projektteam Dokumentationszentrum „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“. Sie arbeitet seit Jahrzehnten in der Vermittlungsarbeit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme mit. Hier ihr Rede:

“Als Kinder haben wir, obwohl wir uns manchmal mit irgendwem herumgeschlagen haben auf der Straße, eigentlich vom Nazismus nichts gewusst oder nicht gemerkt. Bis zum 9.November 1938. Da hat es auf einmal… Da ist es geplatzt! Da haben wir angefangen zu verstehen. Da muss ich so einen großen Schock bekommen haben, dass ich eigentlich gar nichts von damals erinnere.“

„Die Pogromnacht hat mir einen Schock gegeben, dass ich alles, was von da an passiert ist, vergesse oder nicht weiß. Ich weiß nicht, ob ich es vergessen habe oder nicht angenommen, ich weiß es nicht. Davor war ich ein Kind. Als Kind hat man an solche Sachen gar nicht gedacht.“ Leonard Natan Bundheim Natan Ben Brit 

Guten Tag, ich bin Karin Heddinga und bin seit fast 30 Jahren an der KZ Gedenkstätte Neuengamme tätig, zu einem großen Teil in der pädagogischen Arbeit. Seit 2017 habe ich in dem dort angesiedelten Projekt „Transgenerationale Überlieferung von Geschichte: Bausteine zur Zukunft der Erinnerung an den Nationalsozialismus in der Migrationsgesellschaft“ der ZEIT Stiftung, über 60 narrative biografische Interviews vor allem mit Menschen, die bzw. deren Angehörige vom Hannoverschen Bahnhof in Hamburg in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden, geführt. Darin ging es auch um die Auswirkungen der Verfolgungsgeschichte auf ihr heutiges Leben. Ausschnitte der Interviews sollen in dem kommenden Dokumentationszentrum denk.mal Hannoverscher Bahnhof zugänglich gemacht werden.

Von den von mir Interviewten erlebten 15 aufgrund der nationalsozialistischen Ideologie als jüdisch deklarierte verfolgte Personen den 9. November 1938 in Hamburg. Sie waren zu diesem Zeitpunkt Kinder, manche gerade auf der Schwelle zum/zur Jugendlichen. Für alle markierte der Moment eine Zäsur, einen Schock. Manche von ihnen, wie der zitierte Natan Ben Brit, damals 14 Jahre alt, haben an das Geschehene keine Erinnerung mehr, der Schock löschte alles aus. Andere erinnern sich noch genau an alles, an die Gerüche, Geräusche und ihre Gefühle. Manche beschreiben es so, als wären Sie von einem Moment auf den anderen erwachsen geworden. Viele haben erleben müssen, wie in den folgenden Tagen Väter und Onkel in Konzentrationslager (insgesamtwaren es mehr als 27 000 von den Nazis als jüdisch deklarierte Menschen) gesperrt wurden. Worin es sich für alle überschneidet, war, dass sich ihr Leben spätestens von da an radikal geändert hat, dass sie sich nicht mehr als Deutsche oder HamburgerInnen gefühlt haben und das Gefühl hatten, allein zu sein.Auch Ernst Bundheim, der Vater von Natan, wurde ins KZ Sachsenhausen gesperrt. Für die Familie ein Anlass die älteren Kinder aus dem Land zu schicken. Die Mutter folgte mit ihrem Baby. Ernst folgte Ihnen nach seiner Entlassung, die Familie floh über Belgien nach Frankreich. Dort lebten sie verstreut, versteckt, zum Teil in Lagern. Natan und sein Vater wurden aus Frankreich und nach Auschwitz deportiert. Erst Ende der 50er Jahre vereinte sich die zerstreute Familie wieder in Israel, allerdings ohne Ernst Bundheim, der in Auschwitz ermordet wurde.

Natans Bruder Joseph bewegte noch 80 Jahre später die Frage: „Wie konnte es sein, dass die Nachbarn, die so gut waren, mit denen wir eine große Freundschaft, Nachbarschaft hatten, dass niemand von ihnen aufstand und versuchte, das zu verhindern. Wie konnte es sein, dass niemand aufgestanden ist?“

Ich konnte ihm dieses nicht beantworten, obwohl mich diese Frage nicht nur in der pädagogischen Arbeit doch seit Jahren umtreibt und es ist eine Frage, die aktueller denn je ist. Warum sind Menschen nicht nur nicht aufgestanden, sondern haben Ausgrenzung, Verfolgung und Vertreibung begrüßt und unterstützt? Und was bedeutet das für uns heute? …

Heute, an dem Tag, genau 85 Jahre nach den Erstürmungen und dem Abbrennen von 1400 Synagogen, der Zerstörung unzähliger Geschäfte und der Ermordung hunderter Menschen sind Juden und Jüdinnen in Deutschland wieder Angriffen ausgesetzt. Ich persönlich kann meinem Entsetzen darüber gar keinen Ausdruck geben und frage mich, woher kommt die Empathielosigkeit. Und ich möchte diesen Moment auch dazu nutzen an die Erwachsenen und die Kinder zu erinnern, die sich im Moment in Geiselhaft befinden. 

Was man sagen kann, der 9. November und alles was ihm folgte, hatte Auswirkungen auf die damaligen verfolgten Kinder und dieses hat sich für sie und die Folgegenerationen ins Bewusstsein gebrannt.

Naamar Nagar, die Tochter von Joseph Ben Brit,berichtete mir: „Immer, wenn mein Vater aus seiner Kindheit erzählt hat, gab er an, dass diese sehr schön gewesen sei und dass sie sich als Deutsche gesehen hätten. Sie hätten glücklich im Park an der Ecke Brahmsallee mit den Nachbarn gespielt. Eines Tages begannen die Nachbarn damit, sie zu verfluchen und haben aufgehört mit ihnen zu spielen. Später sind sie auch dazu übergegangen, sie zu schlagen und zu treten. Meinen Vater hat das sehr betroffen gemacht,weil er nicht wusste, warum das alles passiert. Als er mit 13 Jahren während der Pogromnacht in die Synagoge zum Beten gehen wollte, hörte er von weitem das Zerbrechen von Glas. Er wurde auf seinem Weg in die Synagoge von Leuten aufgehalten. Ihn hat es verwundert, dass die Polizei nicht eingeschritten ist. Dies ist der Moment gewesen, in welchem er sich zum ersten Mal nicht mehr als Deutscher gesehen hat und er ist in eine Identitätskrise gekommen. Er hat auch realisiert, dass niemand die Synagoge beschützt hat und dass sich niemand um sie kümmerte. Die Geschichte, die Erinnerungen, auch an die Geräusche, hat er immer wieder erzählt. Zu dieser Zeit hat er zum ersten Mal Angst und Einsamkeit gespürt. Er hat sich in Deutschland fremd gefühlt.“ 

Wir alle dürfen nicht schweigen. Wir müssen uns klar gegen Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus positionieren. Wir müssen uns neben und wenn es sein muss vor unsere Mitmenschen stellen, gerade in der aktuellen Situation. Es geht uns alle an!Never again ist jetzt!”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert