Über Carl von Ossietzky in der Schäferstraße 41a, Haus 2

Liebe Anwesende, ich muss um Nachsicht bitten, dass ich trotz Zusage den mir zugedachten Part zu Beginn des Stadtteilrundgangs aufgrund eines kurzfristig dazwischen gekommenen, und leider nicht aufschiebbaren Termin nicht wahrnehmen kann. Meine Notizen werden vorgetragen.

Als ich im Jahr 2011 zu geschichtsträchtigen Orten für mein Schanzen-Büchlein recherchierte, stieß ich darauf, dass in dieser damals und wohl noch heute bunt bemalten Hinterhof-Terrasse ein solcher Ort befindet. Dass sie in den späten 1980er Jahren besetzt wurden und der damalige Hauseigentümer den heruntergekommene Komplex 1987 an die Besetzer verkaufte, ist heute an sich schon geschichtsträchtig.

Ich fand aber heraus, dass schon viel früher an dieser Stelle Bemerkenswertes existierte. Hier hatte von 1919 bis 1924 der von Carl Thinius gegründete pazifistische Pfadweiser-Verlagsein Domizil. Dieses bestand aus vier Räumen – das erste Fenster links muss dazugehört haben (was aus dem Foto nicht so ganz eindeutig hervorgeht), in dem fünf Angestelltearbeiteten. In dem Verlag erscheinen Werke aus dem Umfeld des Deutschen Monistenbundes und der Friedensbewegungnach dem ersten Weltkrieg. Die Grundausrichtung des Monistenbundes war internationalistisch und pazifistisch, in tagesaktuellen Fragen herrschte allerdings selten Einigkeit. Innerhalb des Bundes waren vor allem die Frage der Haltung zum Ersten Weltkrieg und zur Novemberrevolution umstritten.

Die Geschäfte des Pfadweiser-Verlages gehen schlecht. Von März bis September 1919 arbeitet der spätere Herausgeber der »Weltbühne« und Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky als Lektor im Verlag. Er erhält ein Gehalt zwischen 10 und 20 Mark die Woche. Möglicherweise ist es dieses kärgliche Einkommen, das ihn bewegt, sich eine Zigarette rauchend auf dem Verlagsstuhl niederzulassen und demonstrativ einExemplar der Wiener Zeitschrift »Revolution!« in die Kamera zu halten. Im Pfadweiser-Verlag, also an diesem Ort plant er die Herausgabe seiner ersten Zeitschrift »Die Laterne«. Er lässt dafür einen Umschlag von H.D. Leipheimer entwerfenund das Monistenblatt erscheint auch– allerdings nur mit einer Nullnummer, die in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg archiviert ist, die inzwischen seinen Namen trägt. Das Projekt muss wegen Geldmangels wieder aufgegeben werden.

Ossietzky gibt während seiner halbjährigen Tätigkeit im Verlag vier Aufsätze unter dem Titel »Der Anmarsch der neuen Reformation« als Nummer 2 der »Flugschriften des deutschen Monistenbundes« heraus und verfasst als Lektor ein Vorwort zu dem Antikriegsbuch »Das Irrenhaus« von Wilhelm Lamzus. Beide Buchprojekte werden keine Verkaufserfolge. Neben Büchern verlegt der Pfadweiser-Verlag eine Sammlung revolutionärer und freisinniger Blätter und Flugschriften (»Zukunft«, »Universum«, »Ziegelbrenner«, »Das neue Deutschland«).

Zusätzlich einige biografische Hinweise zu Carl von Ossietzky. Er wurde am 3. Oktober 1889 in der Großen Michaelisstraße 10 in der Hamburger Neustadt geboren, als 21-jähriger zog er mit seiner Mutter und seinem Stiefvater 1910 nach St. Georg, wohnte dort unter anderem in der Langen Reihe und in der Koppel. Auf Initiative des Einwohnervereins St. Georg von 1987 e.V. erhielt der Marktplatz an der Langen Reihe am 27. November 1990 den Namen Carl-von-OssietzkyPlatz.

1919 ging Ossietzky nach Berlin, um eine Stelle Generalsekretär der »Deutschen Friedensgesellschaft« anzutreten. Von 1920 bis 1924 arbeitete er bei der Berliner Volks-Zeitung, zunächst als außenpolitischer Mitarbeiter, später als Redakteur. Daneben engagierte er sich in der »Nie wieder Krieg«-Bewegung. Zu jedem Jahrestag des Kriegsausbruches, dem 1. August, organisierte die Bewegung große Veranstaltungen in verschiedenen deutschen Städten, vor allem in Berlin. Für die Bewegung gab Ossietzky außerdem ein eigenes Mitteilungsorgan heraus.

Auf Anregung von Kurt Tucholskys hatte sich Siegfried Jacobsohn, Herausgeber der Berliner Wochenzeitschrift »Die Weltbühne«, von Sommer 1924 an um die Mitarbeit Ossietzkys bemüht. Es sollte noch bis zum April 1926 dauern, bis zum ersten Mal ein politischer Leitartikel von ihm in dem Blatt erschien. Nach Jacobsohns Tod ernannte dessen Witwe Ossietzky zum Herausgeber und Chefredakteur der Weltbühne. Wegen des Artikels »Windiges aus der deutschen Luftfahrt« von Walter Kreiser aus dem Jahr 1929, der geheime Aufrüstungspraktiken der Reichswehr aufdeckte, wurde er wegen Verrats militärischer Geheimnisse zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt und musste am 10. Mai 1932 die Strafe im Gefängnis Berlin-Tegel antreten. Zahlreiche Freunde und politische Weggefährten begleiteten Ossietzky bis an das Tor der Haftanstalt. Am 22. Dezember 1932 kam er wieder frei.

Entgegen allen Ratschlägen, Deutschland zu verlassen, blieb Ossietzky und wurde am 28. Februar 1933, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, wurde er verhaftet und musste die Konzentrationslager Sonnenburg, Börgermoor und Papenburg-Esterwegen durchleiden, bis er kurz vor den Olympischen Spielen 1936 schwerkrank aus dem KZ entlassen und in das Staatskrankenhaus in Berlin verlegt wurde. Am 7. November 1936 wurde die Haft offiziell für beendet erklärt, er blieb aber unter der Aufsicht der Gestapo.

Bereits 1934 stellten im Namen der Deutschen Liga für Menschenrechte (deren Vorstand er von 1926 bis 1927 angehört hatte) Anträge zur Ehrung Ossietzkys mit dem Friedensnobelpreis. Am 23. November 1936 verlieh das Nobelpreiskomitee ihm den Preis dann rückwirkend für das Jahr 1935, nachdem sich zuvor eine internationale Kampagne unter dem Motto »Den Friedensnobelpreis in das Konzentrationslager!«, die unter anderem von Willy Brandt, Albert Einstein, Romain Rolland, Ernst Toller, Heinrich und Thomas Mann unterstützt wurde, dafür stark gemacht hatte.

Am 4. Mai 1938 ist Carl von Ossietzky an den Haftfolgen in den KZs gestorben.

Eine knappe Biografie von Gerhard Kraiker und Elke Suhr gibt es noch als E-Book im Rowohlt-Verlag.

Stadtteilrundgang 28.6.2023 | gerd siebecke

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