Über Erika Estis, geborene Freundlich

Am 8. April 2021 wird Erika Estis, geborene Freundlich, im Live-Stream zu sehen und zu hören sein. Sie ist die wohl älteste, noch lebende Schülerin aus der Israelitischen Töchterschule. Sie über lebte den Holocaust, ihr Eltern, Irma und Paul Freundlich nicht. Astrid Louven hat über sie biographische Details aufgeschrieben. Auf ihrem Blog www.astrid-louven.de kann man sich weiter umfassend informieren.

Erika Freundlich wurde am 14. November 1922 in Hamburg geboren, vor beinahe 100 Jahren. Ihr Vater Paul Freundlich ist seit 1910 Inhaber einer Apotheke in der Fruchtallee Ecke Vereinsstraße im Stadtteil Eimsbüttel. Ihre Mutter Irma stammt aus der Wandsbeker Familie Beith, deren Vater ist der langjährige Vorsteher der dortigen jüdischen Gemeinde.

Erika bleibt das einzige Kind ihrer Eltern, gleichwohl wächst sie mit den drei Töchtern aus der geschiedenen Ehe ihres Vaters auf: mit Ingeborg (1911), Hildegard (1913) und Gerda (1914). Irma Freundlich ist in einem religiösen Haus aufgewachsen. Sie führt den Eimsbütteler Familienhaushalt nun koscher und wird von einer Köchin, einem Dienstmädchen und einem Kinderfräulein unterstützt.

Die Wohnung der Familie liegt in den beiden oberen Stockwerken der Fruchtallee 27 und ist  durch einen Eingang neben der Apotheke zu erreichen. Im Erdgeschoss befindet sich die Apotheke mit dem Laboratorium (Offizin), der Materialkammer und einigen Nebenräumen.  

Die Kunden in der Nachbarschaft beäugen die neue Apotheke von Anfang an misstrauisch. Unwissenheit gepaart mit antisemitischen Vorurteilen führt zu einem Rückgang der Umsätze. Erst als  der Pastor der Christuskirche, die in unmittelbarer Nähe gegenüber der Apotheke liegt, darüber während einer Predigt spricht und Paul Freundlich als verantwortungsvollen Charakter bezeichnet, und die Gemeinde auffordert, ihre Aversionen gegen ihn aufzugeben, verbessert sich die Lage. 

Erika wird oftmals von Nachbarskindern gemieden oder beschimpft, besonders nach dem April-Boykott 1933, als man das Geschäft mit der Aufschrift „Jude“ brandmarkt, und ihr die Kinder nun voller Stolz ihre HJ-Uniformen präsentierten.


Seit April 1929 besucht Erika die Israelitische Töchterschule Karolinenstraße und erlangt 1933 die Mittelschulreife. Danach ist sie Schülerin der Talmud-Tora-Schule, wo sie auf dem Oberrealschulzweig Abitur machen will. Dazu kommt es nicht mehr. Sie ist vielmehr gezwungen, ihre Ausbildung zu unterbrechen, wird sie doch noch während des laufenden Schuljahres, im März 1938, aus der Klasse III a entlassen.

Paul Freundlich muss seine Apotheke Anfang 1937 schließen und an einen nichtjüdischen Inhaber abtreten. Bereits im November 1936 ist die Familie nach Harvestehude in die Oderfelderstr. 40 gezogen. Erika bleiben noch zwei Jahre bis zur Trennung von ihren Eltern. 

Die Folgen des Novemberpogroms 1938 wirken sich unmittelbar auf die Familie aus. Ende November nimmt eine Lehrerin sie beiseite: „Eine Gruppe von Kindern wird bald nach England fahren. Du solltest deine Eltern fragen, ob sie dir erlauben mitzufahren. Du wirst die Chance haben, eine sehr viel bessere Ausbildung zu bekommen, als wir dir hier bieten können.“  Aber die 16jährige Erika hat Bedenken, da ihre älteren Schwestern bereits im Ausland leben. „Ich kann meine Eltern nicht verlassen, ich bin das einzige Kind zu Hause.“ Als sie ihren Eltern schließlich mitteilt, dass sie nicht mehr bleiben will, da eine gute schulische Ausbildung in Deutschland für jüdische Schüler nicht mehr möglich sei, bleibt der befürchtete Widerstand aus. „Und sie haben alles für mich arrangiert.“  An Vorbereitungszeit bleiben nur etwa zehn Tage. Am 14. Dezember findet sich die Familie auf dem Altonaer Bahnhof ein. Erika erinnert sich: „Es war entsetzlich auf diesem Bahnhof, aber ich habe es nicht gemerkt. Mein Vater trug diesen blauen Mantel und wahrscheinlich auch einen Hut. Und er hat geweint, so viel geweint, und ich konnte es nicht ertragen… Ich habe niemals meine Mutter angeblickt, ich wollte sie nicht ansehen, vielleicht wird sie weinen, dann würde ich auch weinen. Ich war sehr gut, ich habe sie nicht angeguckt, ich habe nicht geweint, mein Vater hat geweint, und dann sind wir auf die Bahn gekommen; er hat mich gesegnet … Das war das letzte Mal, dass ich meine Eltern gesehen habe.“

Paul Freundlich schildert in einem Brief vom 19. Dezember 1938 seiner Tochter Gerda die unverhoffte Schnelligkeit der Ereignisse sowie die Atmosphäre auf dem Bahnhof. „Ich kann es mir noch gar nicht so recht vorstellen, dass Erika nicht mehr hier sein soll. Das ging alles so plötzlich. … Ihr könnt euch gar nicht vorstellen den Abschied, den Eltern und Kinder voneinander nahmen. Da sah ich drei kleine Kinderchen, das Jüngste mochte 5 Jahre alt gewesen sein und ihre Händchen in die der Geschwister, die vielleicht ein oder zwei Jahre älter waren, gelegt. Das Kleinchen wollte sich gar nicht von der Mutter trennen. Das ganze Bild, das die auswandernden Kinder zeigten, war bejammernswert … (und) grauenerregend. Und bei alledem, es war am besten so für die Kinder.“  

Nun werden auf dem Altonaer Bahnhof die Türen geschlossen und der Zug setzt sich in Bewegung. Nächster Stopp: Hauptbahnhof. Weitere Kinder steigen zu. Erikas  Großmutter Selma Beith ist aus Wandsbek gekommen, um sich von ihrer Enkelin zu verabschieden. Aber die Kinder haben sich nicht an den Zugfenstern zeigen dürfen. Jahre später wird sich die Großmutter darüber beklagen, dass Erika nicht gewinkt hat. 

Dann macht sich der Zug auf den Weg, um seine junge, nicht mehr geduldete Fracht über die Staatsgrenze zu schaffen. Die Stimmung im Zug mochte von Trennungsschmerz und Furcht vor den Zollkontrollen geprägt sein.  

Inzwischen hat der Zug die Grenze erreicht. Deutsche Zollbeamte verteilen sich in den Abteilen, um das Gepäck zu kontrollieren. Draußen hat sich ein holländisches Mitglied des Flüchtlingskomitees postiert, um die Prozedur zu überwachen. Der Zollbeamte zieht daraufhin ärgerlich die Jalousie herunter, so dass ihn die Frau nicht länger beobachten kann. Die eigentliche Kontrolle verläuft dann ziemlich oberflächlich. „Ich hätte unseren Familienschmuck in meinem Koffer haben können“, erinnert sich Erika fast ein wenig enttäuscht. 

Nachdem der Zug die Grenze passiert hat, kümmern sich Helfer der örtlichen jüdischen Gemeinden um die Kinder. In Hoek van Holland besteigt die Gruppe die Fähre und setzt in einer Nachtfahrt über den Kanal. Am 15. Dezember 1938 erreichen sie die englische Küste in Harwich. Am Pier befinden sich zahlreiche Reporter und Fotografen. Ihre Berichterstattung in den englischen Medien soll Familien motivieren, Flüchtlingskinder aufzunehmen. Kinder, die bereits Gasteltern haben, fahren nach London weiter. Das trifftaber nur auf die Jüngsten dieser Gruppe zu, die Mehrheit der Kinder bezieht in Dovercourt Quartier. „Ich war schon zu groß und man hatte keine Familie für mich arrangiert. Wir sind in ein Sommercamp gekommen …“, erinnert sich Erika Freundlich. Im Aufnahmelager Dovercourt, 2 km vom Hafen Harwich entfernt, werden bis zu 600 Kinder untergebracht. Die Zustände werden allgemein negativ aufgenommen und erinnert, kein Wunder, wohnen die Kinder mitten im Winter doch in hölzernen Kabinen ohne Heizung. Zudem setzt an den Wochenenden eine Art „Pflegeeltern-Tourismus“ ein. Aufnahmewillige britische Eheleute erscheinen, um sich die jüngsten und hübschesten Kinder auszusuchen. Besonders Jungen und ältere Kinder gehörten nicht zu den Bevorzugten. „Wir zogen unsere beste Kleidung an, versuchten nett auszusehen und hofften auf eine passende Unterbringung.“ Aufgrund dieses fragwürdigen Auswahlverfahrens bleibt Erika länger als andere in Dovercourt. Schließlich findet sie vorübergehend Aufnahme in einer Familie, dann in einer anderen, und so geht es weiter. Einer der Gründe für die Familienwechsel mag daran liegen, dass Erika an koschere Mahlzeiten gewöhnt ist. Zudem erkrankt sie schwer und versucht, nach Hamburg zurückgeschickt zu werden. Daraufhin setzt ihre Mutter bei den Behörden durch, dass sie die Pflegeeltern anrufen kann, muss sich allerdings sagen lassen, was für ein undankbares Mädchen ihre Tochter sei. Irma Freundlich schreibt der englischen Familie und betont in ihrem Brief, dass ihre Tochter kein schlechtes Kind, sondern wohl nur traurig sei. Als Erika wieder gesund ist, kehrt sie in die Privatschule zurück, die sie schon vorher besucht hat. Sie ist dort sehr zufrieden und entwickelt sich zu einer ehrgeizigen Schülerin. „Meine Eltern sollten stolz auf mich sein.“ Doch weiteres Ungemach droht, die Internierung als „feindliche Ausländer“ auf der Isle of Man. Die Direktorin ihrer Schule kann eine Ausnahme erwirken, so dass Erika bleiben kann. Im Juli 1940 muss sie die Mittelschule jedoch verlassen, da diese kriegsbedingt geschlossen wird und arbeitet ab Herbst d.J. im Büro der Jewish Agency for Palestine.

In Hamburg erhalten Paul und Irma Freundlich den Deportationsbefehl in die Oderfelderstraße zugestellt. Sie finden sich in der Sammelstelle ein und haben am 11. Juli 1942 den Zug nach Auschwitz zu besteigen. Dort verliert sich ihre Spur. Paul Freundlich ist knapp 63, Irma Freundlich 46 Jahre alt.


Bis zum Kriegsausbruch 1939 hat Erika mit ihren Eltern in Hamburg in Briefkontakt gestanden. Danach erhält sie noch Informationen von ihren in Amerika lebenden Verwandtenüber ihre Eltern, bis auch dieser Kontakt abbricht, als die USA 1941 in den Krieg eintreten.

Von der Deportation ihrer Eltern nach Auschwitz erfährt Erika nichts. „Ich habe immer geglaubt, wenn der Krieg vorbei ist, werden wir uns wiedertreffen.“ Ihre älteren Schwestern dagegen sind über die Vorgänge in Hamburg informiert. 

Im Mai 1945 lebt Erika in London. Sie ist 22 Jahre alt. Einige Zeit nach Kriegsende erhält sie von einer Kollegin eine Zeitungsannonce, die im „Aufbau“ erschienen war, einer deutschsprachigen New Yorker Zeitung, in der zu dieser Zeit unzählige Suchanzeigen von Hinterbliebenen aufgegeben werden. „Ich suche meine Eltern Paul Freundlich und Irma Freundlich, geb. Beith… Dankbar für jede Auskunft“, hat Erikas Schwester Hildegard inseriert. Erika ist  gezwungen, sich den unerträglichen Tatsachen zu stellen: „So habe ich das erfahren. Doch niemand hat sich auf die Anzeige gemeldet.“ Sie macht sich nun regelmäßig zum Suchdienst auf und sichtet die Listen mit den Namen der Lagerüberlebenden. Die Namen ihrer Eltern sucht sie vergeblich. „Jeden Tag bin ich dahin gegangen und habe davor gestanden und habe geweint und habe sie nie gefunden. Das war das Ende.“ 1946 übersiedeltErika Freundlich in die USA, wo sie 1947 heiratet und eine Familie gründet. Gegenüber dem früheren Gastland England empfindet sie in erster Linie Dankbarkeit, stellt sich heute allerdings die Frage, warum es damals keine  Möglichkeit gab, auch die Eltern der Kinder aufzunehmen. Lange Zeit hat sie die Hoffnung genährt, ihre Mutter könnte doch überlebt haben. 
Ihren drei Kindern will Erika eine unbeschwerte Kindheit erhalten. Erst seit den 1980er Jahren spricht sie über ihr eigenes Schicksal und das ihrer Eltern. 

Eine innere Verbindung zu Hamburg ist geblieben. Erika hat ihre Geburtsstadt erstmalig Anfang der 1990er Jahre mit ihren Kindern und später auch mit den Enkelkindern besucht. Oftmals wird sie zu Gedenk-Ausstellungen nach Hamburg eingeladen. Dabei besucht sie auch die Spuren ihrer Kindheit, das Haus in der Oderfelderstraße, die Israelitische Töchterschule und die Gegend um die frühere Apotheke. In einer E-Mail heißt es: „Vergiss nicht zu schreiben von den Glocken der Christuskirche, ich höre ihr Läuten immer noch.“ 

Die Stolpersteine für Paul und Irma Freundlich sind vor dem Eckgrundstück verlegt, wo sich die Apotheke befand. 2008 – Erika besucht mit ihrer Tochter und ihrem Sohn Hamburg – finden sie die Stolpersteine völlig zerkratzt vor. Ein Versehen infolge von Bauarbeiten oder mutwillige Zerstörung? Die Frage konnte nicht geklärt werden. Die Steine sind ersetzt worden.

© Astrid Louven

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