Eine besondere Einladung zum 9. November 2022 um 17 Uhr an zwei Stolpersteinen an der Fruchtallee

Gegenüber der Eimsbütteler Christuskirche, Ecke Vereinsstraße/ Fruchtallee war bis Mitte der 1940er Jahre die Hansa Apotheke. Der jüdische Inhaber Paul Freundlich betrieb sie seit 1910. Nach der Hochzeit mit Irma Beith lebte die Familie seit 1921 in der Fruchtallee 27. Am 14. November 1922 kam ihre Tochter Erika zur Welt.

Die damaligen Nachbarn hatten Freundlichs Apotheke von Anfang an misstrauisch beäugt. Konnte man den Medikamenten trauen, die ein Jude herstellte? Musste man nicht befürchten, vergiftet zu werden? Erst als der Pastor der Christuskirche in einer Predigt den jüdischen Apotheker als guten, verantwortungsvollen Charakter bezeichnete und die Gemeinde aufforderte, ihre Aversionen gegen ihn aufzugeben, verbesserte sich zunächst die Situation. 

Mit dem Machtantritt der NSDAP 1933 wurde der Antisemitismus zum Maßstab staatlichen Handelns. So gab es ab 1935 die sogen. Rassegesetze, die die jüdischen Nachbarn der bürgerlichen Gleichstellung beraubten. Wenig später erhielten sie Berufsverbot , wie Paul Freundlich im März 1936. Er musste die Apotheke an einen „Arier“ verkaufen. Ab 1938 wurde jüdischen Menschen systematisch ihr Eigentums geraubt. Immobilien und Unternehmen mussten sie weit unter Wert verkaufen. Hohe Steuern und Abgaben machten eine Aus- wanderung kaum noch möglich.

Die kleine Erika wurde oft von Nachbarskindern gemieden oder beschimpft, besonders nach dem Aprilboykott 1933, als man die Apotheke mit der Aufschrift „Jude“ beschmiert hatte, und Nachbars- kinder stolz ihre Hitler-Jugend- Uniformen präsentierten. Seit April 1929 hatte Erika die Israelitische Töchterschule in der Karolinenstraße besucht und 1933 die Mittelschureife erlangt. Sie fuhr mit der Straßenbahnlinie 11 von der Station Fruchtallee bis zum Schlump und ging zu Fuß durch den Schanzenpark, über die heutige Rentzelbrücke am Fernsehturm  zur Karolinenstraße 35. Eigentlich wollte sie auf dem Oberrealschulzweig der Talmud Tora  Schule Abitur machen, wozu es jedoch nicht mehr kam. Sie wurde während des laufenden Schuljahres, im März 1938, aus der Klasse III a entlassen. Bis zu ihrer Auswanderung im Dezember 1938 besuchte sie weiterhin die Israelitische Töchterschule in der Karolinenstraße 35. Am 9. November 1938 kam es zu Übergriffen gegen jüdische Einrichtungen. Ein prominentes Beispiel war die Bornplatz-Synagoge am Grindel.

Viele Geschäfte jüdischer Inhaber in der Innenstadt und den Stadtteilen wurden zertrümmert. Könnte man eine Zeitreise unternehmen und durch die Bellealliancestraße bis zur Hausnummer 66 gehen, würde man die zerschlagenen Scheiben des Zigarrengeschäfts von Ivan Andrade sehen. Ihn würde man nicht mehr antreffen, da er bereits von der Polizei zur Wache in die Bundesstraße 96 verschleppt worden war. Auf dem Weg dorthin wurden auch Salomon Wagner, Michael und Paul Belmonte aus der Schäferkampsallee 11 festgenommen. Die meisten der an diesem Tag  insgesamt fast 1.000 Hamburger verhafteten Juden wurden von dort ins KZ Sachsenhausen verschleppt. 

Die Auswirkungen des Novemberpogroms alarmierte auch das Ausland. Großbritannien entschied, jüdische Kinder aufzunehmen. Das hatte unmittelbare Folgen für die Familie Freundlich. Unter dem Druck der Verfolgung bereitete sich Erika auf die Auswanderung nach England vor. Eine Lehrerin hatte ihr geraten, sich einem Schülertransport anzuschließen. Aber Erika hatte Bedenken. „Ich kann meine Eltern nicht verlassen, ich bin das einzige Kind zu Hause.“ Für Vorbereitung blieb nur wenig Zeit. Am 14. Dezember fand sich die Familie auf dem Altonaer Bahnhof ein. Erika erinnerte sich: „Es war entsetzlich auf diesem Bahnhof, aber ich habe es nicht gemerkt. Mein Vater trug diesen blauen Mantel und wahrscheinlich auch einen Hut. Und er hat geweint, so viel geweint, und ich konnte es nicht ertragen … Ich habe niemals meine Mutter angeblickt, ich wollte sie nicht ansehen, vielleicht wird sie weinen, dann würde ich auch weinen. Ich war sehr gut, ich habe sie nicht angeguckt, ich habe nicht geweint, mein Vater hat geweint, und dann sind wir auf die Bahn gekommen; er hat mich gesegnet … Das war das letzte Mal, dass ich meine Eltern gesehen habe.“ Erika Freundlich, die heute Estis heißt, blieb in England, bis sie 1946 zu Verwandten in die USA gelangte. Am 14. November 2022 wird sie nahe New York ihren 100. Geburtstag feiern.

Während Erika fliehen konnte, wurden ihre Eltern am 11. Juli 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Wir vergessen weder sie noch ihr Leid und die Verbrechen: Heute finden Sie auf dem Gehweg vor der ehemaligen Apotheke zwei Stolpersteine für Irma und Paul Freundlich.

Um an den Novemberpogrom zu erinnern, werde ich am

Mittwoch, den 9. November 2022 um 17 Uhr an der Ecke Vereinsstraße/Fruchtallee

an den Stolpersteinen für Irma und Paul Freundlich Kerzen aufstellen und Blumen niederlegen. Vielleicht treffen wir uns?

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