Gerne möchte ich Ihnen etwas über eine ehemalige Schülerin der „Mädchen-Volksschule Schwenckestraße 98“ erzählen. Seit 2011 ist aus der früheren „Mädchen- und Knabenschule Schwenckestraße 98–100“ eine moderne Wohnanlage geworden. Mir geht es um Agnes Geisler, die während der NS-Zeit die Schule in der Schwenckestraße 98 besuchte, bevor sie 1942 zwangsweise die Schule verlassen musste. Sie hatte gerade einmal zwei Jahre Unterricht. Warum wurde sie ausgeschlossen? Weil sie eine Sintizza war.
Eine Anordnung der Hamburger Schulverwaltung überließ es in der NS-Zeit der jeweiligen Schulleitung, wie mit Sinti und Roma verfahren wurde, deren Schulpflicht formal noch bestand. In einem Erlass vom 15. Juni 1939 (E II e 624/39) hieß es über Sinti und Roma sowie People of Color (PoC): „Soweit solche Kinder in sittlicher und sonstiger Beziehung für ihre deutschblütigen Mitschüler eine Gefahr bilden, können sie jedoch von der Schule verwiesen werden. In solchen Fällen wird es sich empfehlen, die Polizeibehörde entsprechend zu benachrichtigen.“

Nach der nationalsozialistischen Rassenideologie galten Roma und Sinti als „schädlich“ für das „deutsche Blut“. Mit den „Nürnberger Rassegesetzen“ von 1935 wurden sie als „fremdrassig“ und „undeutschen Blutes“ zu Menschen minderen Rechts degradiert. Ab 1936 war es ihnen unter schwerer Strafe verboten, Ehen oder außereheliche Beziehungen mit der Mehrheitsgesellschaft einzugehen – offiziell zur „Reinhaltung des deutschen Blutes“. Zeitgleich begann ihre zentrale Erfassung und rassistische Kategorisierung, die die Grundlage für die späteren Deportationen in die Vernichtungslager ab 1940 bildete.
Wer war Agnes Geisler und warum erzähle ich Ihnen das?
Agnes Geisler wurde am 20. Januar 1933 geboren. Sie lebte damals nicht weit von Ihnen entfernt – seit Ende der 1930er Jahre in einer Kellerwohnung im Hellkamp 36. Am 11. März 1943 wurde sie zusammen mit ihren Eltern und Geschwistern über den Hannoverschen Bahnhof (heute Hafencity, hinter dem SPIEGEL-Gebäude) in das KZ Auschwitz verschleppt. Zwischen 1940 und 1944 gab es insgesamt drei Deportationen von über 1.300 Sinti und Roma über den Hannoverschen Bahnhof in die Vernichtungslager im Osten. Am 11. März 1943 waren es alleine 357 Menschen.
Auch ihre Schwester Anna und deren beiden Kinder, Doris (geb. 1942) und Gisela (geb. 1942) lebten 1943 in der Osterstraße 104. Sie wurden damals auch deportiert. Alle wurden wenige Tage vor dem 11. März 1943 von der Kriminalpolizei verhaftet und in einen Schuppen im Hamburger Hafen gebracht – genau dort, wo am 25. April 2025 das „Westfield Überseequartier“ in der Hafencity eröffnet werden soll.
Ich hatte Agnes im vergangenen Jahr kennengelernt und sie nach Hamburg eingeladen, damit sie über ihre Erinnerungen an die NS-Zeit in Hamburg und das KZ Auschwitz berichten sollte. Ihre Erlebnisse erzählte sie dem Lehrer Louis Pawellek, der sie aufgezeichnet hatte.

In unserem Gespräch redete sie über ihr Leben in den 1930/40er Jahren in Eimsbüttel – über das Eis von „Adda-Eis“ in der Osterstraße für einen Groschen, den Besuch des Urania-Theaters (30 Pfennig) an der Ecke Osterstraße/Heußweg oder ihre Schulzeit in der „Mädchen- Volksschule Schwenckestraße 98“ (heute Wohnanlage), den Schulleiter, Herrn Seifert und die Klassenlehrerin, Frau Klarna. Sie erzählte von ihrem Vater, der für die Spedition Carl Luppy arbeiten musste, deren Sitz sich im Hellkamp 32 befand.
Über Agnes Erlebnisse gibt es auch einen Podcast-Beitrag auf „Chaya’s Talk“ unter dem Titel „Tante Mundel: Bericht einer Zeitzeugin über die NS-Zeit und die KZs“.
Was möchte ich von Ihnen?
Leider ist Agnes kurz nach ihrem 92. Geburtstag Ende Januar 2025 verstorben. Gerne wäre ich mit ihr bei ihrem Besuch dieses Jahr in Hamburg durch die Straßen ihrer Kindheit in Eimsbüttel gegangen. Wir hätten gemeinsam vor dem Eingang ihrer ehemaligen Mädchenschule gestanden. Mit einer anderen ehemaligen Schülerin aus den 1930er Jahren hatte ich bereits über die Lehrerinnen und ihre Erinnerungen gesprochen, sodass ich diese zusammenfassen und Ihnen vorab in den Briefkasten werfen wollte.
Eine Veranstaltung in der Nachbarschaft mit Agnes war in der Wolfgang-Borchert-Schule geplant, da ihre Schwester Marianne (geb. 1931) die damalige Mädchen-Volksschule Schwenckestraße 93 besuchte. Auch sie wurde gezwungen, die Schule zu verlassen. Beide Schwestern wurden am 11. März 1943 deportiert.
Im KZ Auschwitz (II) verloren sie ihre Mutter Maria (geb. 1899) und ihre Nichte Doris (geb. 1942). 1944 wurde Agnes zur Zwangsarbeit ins KZ Ravensbrück verschleppt. Während Marianne später ins KZ Buchenwald kam, wurde Agnes ins KZ Mauthausen deportiert und erlebte ihre Befreiung schließlich im KZ Bergen-Belsen.
Einladung zur Buchlesung am 9. April 2025, 19 Uhr, in der Wolfgang-Borchert-Schule

Zusammen mit Louis Pawellek, der Agnes’ Erzählungen auf 80 Seiten niedergeschrieben hat, findet am Mittwoch, den 9. April 2025, um 19 Uhr in der Wolfgang-Borchert-Schule (Schwenckestraße 91/93) eine Buchlesung statt. Es gibt mehrere Mitschnitte der Gespräche mit ihr, sodass man sich auch ein Bild von Agnes Geisler machen kann. Vielleicht treffen wir uns dort? Vielen Dank für Ihr Interesse!